Der Gaier und Rudi der Regenwurm
Es war einmal, tief unten in einer feuchten, moosigen Wiese,
ein kleiner Regenwurm namens Rudi.
Rudi war nicht besonders stark, und er konnte weder fliegen
noch laut schreien wie die Krähen. Aber er hatte etwas, das
kein anderes Tier im ganzen Wiesental besaß: einen
messerscharfen Verstand.
Eines Tages hörte Rudi ein bedrohliches Scharren über ihm. Der
Schatten des bösen Gaier, eines gefräßigen
Greifvogels mit Augen so scharf wie Dolche, glitt über das
Gras.
Der Gaier war bekannt dafür, jedes Tier, das sich blicken ließ,
zu verschlingen – und Regenwürmer waren seine Lieblingsspeise.
„Ha! Heute gibt’s Regenwurmragout!“ krächzte der Gaier und stürzte sich hinab.
Doch Rudi war vorbereitet. Er hatte von den Feldmäusen gehört, dass der Gaier gierig, aber auch eitel war. Also rief Rudi laut aus seinem Loch:
„Oh edler Gaier, was für prächtige Federn du hast! Aber… hast du schon mal gesehen, wie sie im Sonnenlicht glänzen, wenn du im Kreis über der Wiese fliegst?“
Der Gaier, geschmeichelt wie ein Hahn mit Goldkrone, ließ sofort von seinem Angriff ab und flog hoch, um seinen „Glanzflug“ zu präsentieren. Während er Kreise zog und sein Spiegelbild im nahen Bach suchte, kroch Rudi flink aus seinem Loch – nicht nach oben, sondern tief, tief nach unten, in einen geheimen Gang, den er extra für diesen Tag gegraben hatte.
Als der Gaier zurückkehrte, war der Platz leer. Nur ein kleines
Blatt lag am Eingang des Wurmlochs, auf dem stand:
„Wer nur mit den Augen sieht, wird nie den Verstand des Gegners
erkennen.“
Der Gaier krächzte wütend, doch im Wiesental ging fortan die
Geschichte vom listigen Regenwurm um, der den großen Räuber mit
nichts als klugen Worten besiegte.
Und Rudi? Der lebte viele Jahre glücklich – und grub von da an
immer doppelt so viele Fluchttunnel.
Moral: Stärke mag beeindrucken, aber Klugheit gräbt tiefere Wege.
